Hinweis

Die Klägerin war als Kassiererin in einem Einzelhandelsunternehmen seit 1977 beschäftigt. Am 12.1.2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von € 0,48 und € 0,82 aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Die Klägerin reichte die beiden Bons bei einem privaten Einkauf 10 Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es auf Grund einer Anweisung des Arbeitgeber erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portmonee gesteckt worden sein.
Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise fristgerecht. Die Kündigungsschutzklage der Klägerin wurde vom Arbeitsgericht Berlin und vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg abgewiesen. Die rechtswidrige und vorsätzliche Verletzung des Eigentums oder Vermögens des Arbeitgebers, auch wenn es sich um Sachen mit nur geringem Wert handele, stelle einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung sei auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Rahmen der arbeitgeberseitigen Aufklärung den Sachverhalt geleugnet und den Verdacht haltlos auf andere Mitarbeiter abgewälzt habe.
Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidungen der Vorinstanz aufgehoben und entschieden, dass die Kündigung unwirksam sei. Zwar sei der von der Klägerin begangene Vertragsverstoß schwerwiegend. Er berühre den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und habe damit trotz des geringen Werts des Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen sei die Beklagte besonders anfällig dafür, dass in der Summe hoher Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen eintreten können. Dagegen könne das Prozessverhalten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lasse keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu.
Bei der im Rahmen des § 626 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung müsse insbesondere berücksichtigt werden, dass das Arbeitsverhältnis über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störung verlaufen sei. Die Klägerin habe in diesem langen Zeitraum ein hohes Maß an Vertrauen erworben. Dieses Vertrauen sei durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört worden. Im Rahmen der Abwägung sei auch die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten zu berücksichtigen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10.6.2010 - 2 AZR 541/09).
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist deshalb bemerkenswert, weil seit dem sogenannten Bienenstich-Urteil (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 7.5.1984 - 2 AZR 3/83) auch die Entwendung nur geringwertiger Sachen regelmäßig dazu geführt hat, dass der Arbeitgeber zur fristlosen Kündigung berechtigt war. Die Arbeitsgerichte haben sich regelmäßig auf den Standpunkt gestellt, dass bei einem Vermögensdelikt regelmäßig das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerstört sei. In der Entscheidung aus dem Jahre 1984 hatte eine Verkäuferin heimlich ein Stück Bienenstich gegessen. Sie hat damals die Klage beim Bundesarbeitsgericht verloren.
Der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Fall Emmely ist zuzustimmen. Ob der Arbeitgeber bei einem Vermögensdelikt, bei dem nur ein geringer Wert gegeben ist, ein über 30 Jahre bestehendes Arbeitsverhältnis fristlos kündigen kann, muss unter Berücksichtigung aller Umstände im Rahmen einer Interessenabwägung entschieden werden. Das Bundesarbeitsgericht berücksichtigt dabei alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommende Gesichtspunkte. Eine Rolle spielen das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene "Vertrauenskapital" sowie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes. Die Interessenabwägung ist im Fall der Verkäuferin Emmely auf Grund der Umstände des Falles zu Gunsten der Arbeitnehmerin vorgenommen worden. Ihr Arbeitsverhältnis besteht mithin fort. Der Arbeitgeber ist nunmehr verpflichtet, an die Arbeitnehmerin rückwirkend ab Januar 2008 die Vergütung nachzuzahlen und die Klägerin als Verkäuferin weiterzubeschäftigen.
BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09-
30.6.2010